Das Haus ist nicht mit normalen Maßstäben zu messen

Hundertwasser bei der Pressekonferenz mit Bürgermeister Gratz

am 30. September 1980 in Wien

Hundertwasser und Bürgermeister Gratz bei der Modellpräsentation, 1980. Foto: Bernd Lötsch

So ist es unumgänglich, daß mit einer ganzen Reihe von überholten Bestimmungen gebrochen werden muß. Diese Bestimmungen, Gesetze und Verordnungen sind zu einer anderen Zeit unter anderen Voraussetzungen zum Wohle und zum Schutze des Menschen geschaffen worden und richten sich jetzt, unter neuen Notwendigkeiten, gegen das Wohl der Umwelt und des Menschen.

Ohne menschengerechte Umwelt und ohne Frieden mit der Natur ist ein menschenwürdiges Dasein unmöglich. Diese Friedensgespräche mit der Natur müssen bald beginnen, sonst wird es zu spät sein.

Mit autoritärer Disziplin und Selbstdisziplin geht das noch so recht und schlecht eine Zeitlang, kann das noch eine Weile aufgeschoben werden. Dann jedoch rebellieren Körper und Seele und wir wissen nicht, warum.

Dieses Haus soll den ersten Ansatz eines Gespräches mit der Natur darstellen. Wobei wir und die Natur gleichberechtigte Partner sind und nicht einer den anderen unterdrücken darf.

So müssen im ökologischen Haus Fensterrecht und Baumpflicht wiederhergestellt werden. FENSTERRECHT bedeutet die Freiheit der schöpferischen Gestaltung des dem Bewohner zugewiesenen vorfabrizierten Wohnbereiches durch den Bewohner.

Dies betrifft insbesondere die Außenmauer seiner Wohnung. „Der Mensch muß die Möglichkeit haben, sich aus seinem Fenster zu beugen und, soweit sein Arm reicht, alles rosa zu bemalen, damit man von weitem, von der Straße sehen kann: Dort wohnt ein Mensch.“

Es muß auch gestattet sein, Kletterpflanzen an der Außenwand wachsen zu lassen. Ob der Bewohner dann von diesem Fensterrecht Gebrauch macht oder nicht, ist seine Sache. Den Staat, die Obrigkeit trifft dann keine Schuld, wenn die Fassaden in tödlich steriler Uniformität erstarrt bleiben, und kann seine Hände in Unschuld waschen.

Der Mensch hat drei Häute. Seine eigene, seine Kleidung und seine Behausung. Alle drei Häute müssen ständig wechseln, sich erneuern, ständig wachsen und sich ununterbrochen wandeln, sonst stirbt der Organismus.

Mit dem Einzug des Bewohners muß die schöpferische Bautätigkeit des Bewohners erst beginnen und darf nicht vor seinem Einzug abgeschlossen sein. Zusätzlich dazu gibt es widernatürliche Gesetze, die jede „eigenmächtige Änderung“ am vorfabrizierten Haus strengstens verbieten. Der Mensch wird so als verblödeter, rechtloser Sklave gehalten, dem jede schöpferische Tätigkeit und Umgestaltung SEINES EIGENEN Wohnbereiches unmöglich gemacht wird.

Der Mensch muß in ein verbrecherisches Haus einziehen, das fundamentale Gesetze der Natur und des Menschen mißachtet, und der Mensch darf das nicht selbständig ändern, obwohl er darin wohnt.

Wenn man verbietet, die Architekturhaut wachsen zu lassen wie seine eigene, ist das ein gefährliches Abwürgen des Lebens. Die gehemmten Energien entladen sich dann woanders: in Aggressionen und Depression, in Krankheit, Unglücklichsein, Scheidung. Selbstmord, Terrorismus, Vandalismus, Geisteskrankheit.

BAUMPFLICHT bedeutet die Wiederherstellung des Dialoges mit der Natur. Es geht um eine fundamentale Kehrtwendung, um eine fundamentale Neuorientierung. Ein tägliches Leben ohne intimen Kontakt mit Bäumen, Pflanzen, Erde und Humus ist menschenunwürdig. Das Warten auf Ferien, Parkanlagen, Wienerwaldspaziergänge ist fast noch weniger als der tägliche Pflichtmarsch des Gefängnisinsassen im Gefängnishof. Es handelt sich nicht darum, bewilligte Pflanzen in noch größerer Anzahl wie dekorative Möbelstücke in bewilligte Vasen, Kübel und Bottiche überall hinzustellen. Auch nicht darum, mehr städtisch gepflegte Rasenflächen anzulegen, sondern darum, der wildwachsenden Natur auch im Stadtbild zu ihrem Recht zu verhelfen.

Es ist doch so, daß ein „nicht bewilligter“ Baum nicht wachsen darf, auch wenn er niemanden stört und allen gefällt. Nur ein frei wachsender Baum ist ein wahrer Partner, der uns mehr gibt, als wir ahnen.

Die Schwierigkeit, ein menschengerechtes Haus, noch dazu für andere Menschen, zu bauen, ist allen Architekten bekannt. Die genormten, vorfabrizierten Bauteile machen ein schnelleres, scheinbar billigeres Bauen möglich, kreative und natürliche Unregelmäßigkeiten jedoch unmöglich.

Ein menschenwürdiges Haus müßte so sein wie ein altes Bauernhaus. Alle Fenster verschieden groß, nicht in einer Fluchtlinie und nicht in einer Ebene liegend, an verschiedenen, harmonisch organischen Stellen angebracht. Die Stockwerke verschieden hoch, die unteren höher, die oberen niedriger. Einige Balkone verschiedener Art und Größe ornamental und organisch angebracht.

Die Außenwand nicht perfekt gerade und flach wie Pressplatten, sondern natürlich, fast unmerklich buckelig, mit der Hand gemacht oder aber mit Mosaik und Ornamenten durchzogen. Die Stufen verschieden hoch, verschieden breit und in verschiedenen Materialien. Wilder Wein, Efeu, Veitschi und Bäume müssen von Anbeginn an im Bauplan verankert sein. Die Bäume müssen noch vor der oder zur Grundsteinlegung gepflanzt werden.

Humustoiletten und Kleinkläranlagen mit Wasserpflanzen an Ort und Stelle müssen die Wasserspültoiletten ablösen. Denn unsere Wasserspültoilette ist gift- und seuchenerzeugend und Wasserverschwendung kommt uns teuer zu stehen. Denn unser Unrat muß durch lange Kanalsysteme in zentralisierte Anlagen geschafft werden, um nach irgendwelchen kostspieligen Methoden neutralisiert zu werden.

Das Vorsortieren und Wiederverwerten der Abfälle durch jeden einzelnen muß eine selbstverständliche und frohe Tätigkeit werden (Inzwischen ist diese Vorhersage Realität geworden.)

Verrottbares Material wird zu Humus. Papier, Glas, Metall, Plastik, Stoffe, Holz und gefährliche Medikamente und Chemikalien werden getrennt abgelagert und abgeholt.

Zu dem Haus:

So viel wie möglich und noch mehr von diesen Grundsätzen für ein menschenwürdigeres, verantwortungsvolleres Wohnen sollte erfüllt werden.

  1. Kinder müssen alle öffentlichen Wände zu ebener Erde zum Bekritzeln, Bemalen und Beritzen zur Verfügung haben, so hoch ihre Hände reichen. Diese Gratis-Wandbilder kommen allen zugute, da die kalte, herzlose Anonymität durchbrochen wird. Es stellt sich eine wunderbare Beziehung her zum Haus, in dem das Kind und seine Eltern wohnen. Das Haus ist dann kein anonymer, feindlicher Klotz mehr. Diese Wände können mit 1 cm grauem Gips zum Beritzen und Bemalen versehen und einmal jährlich erneuert werden.
  2. Gras und Bäume müssen auf allen waagrechten Flächen unter dem Himmel wachsen können, auch auf den Fahrstuhltrakten, dort, wo im Winter der Schnee liegt, muß im Sommer alles grün sein. Die Waagerechte gehört der Natur. Die Senkrechte gehört dem Menschen. Von der Vogelperspektive ist das Haus unsichtbar, da alles grün ist.
  3. Zugang zu allen Grünflächen, auch von Mietern unter einem Grasdach und von Mietern schräg unter einem Grasdach. Solcherart verdoppeln sich die Wohnungen mit Zugang zu Dachgärten.
  4. Ein Stück des alten Hauses, das abgebrochen wird, bestehend aus 2 übereinanderliegenden Fenstern mit Gründerzeitstuck, muß erhalten bleiben und in das neue Haus eingegliedert werden. Damit die Geister des alten Hauses in das neue Haus übersiedeln können. Das ist mehr als ein Talisman, mehr als ein Aberglaube. Das ist eine Notwendigkeit, für die es ausführliche Beweise gibt. Eine totale, restlose Zerstörung des alten Gemäuers wäre eine Nichtachtung des Vergangenen, eine Zerstörung der Basis, die sich bitter rächen würde. Denn das neue Haus wäre zum Scheitern verurteilt so wie alle anderen, die ohne diesen Grundsatz gebaut wurden.
  5. Baummieter müssen in das neue Haus einquartiert werden. Baummieter sind Bäume, die aus Fenstern herauswachsen und solcherart die sterile senkrechte Hausfläche begrünen, belauben und bewalden. Straßenbäume sind oft unmöglich wegen des Autoverkehrs und wegen der Untergrundanlagen, und Dachgärten sind von der Straße nicht sichtbar. So bietet sich die senkrechte Wand zum Baumpflanzen an. Der Baummieter benötigt einen minimalen Raum und bezahlt seine Miete in Sauerstoff, Schönheit, Romantik, mit seiner Staubschluck- und -filtertätigkeit, als Klimaverbesserer, als Lärmdämpfer, Schattenspender und in vielen anderen haltbaren Devisen.
  6. Die Erdflächen der Terrassen und Dächer werden 0,5 bis 1 m aufgeschüttet und reichen bis in Fensterbretthöhe, damit der Bewohner die Rasenflächen beim Sitzen in Augenhöhe hat. Die Natur wird ihm so nähergebracht. Er kann vom Fenster aus die Blumen und Gräser mit der Hand erreichen. Ein intimeres, gesünderes Leben mit der Natur wird ermöglicht, damit der unter dem Grasdach Wohnende nicht in seiner Wohnhöhe eingeschränkt wird. Damit mehr Erdreich auf den Dächern untergebracht werden kann, damit auch große Bäume wachsen. Der Lichteinfall bleibt der gleiche. Die Wohnungen sind genauso trocken und luftig wie andere, ohne Gras vor den Fenstern, haben sogar eine bedeutend bessere Luft durch den zusätzlichen Sauerstoff.
  7. Der Gehsteig in der Löwengasse besitzt ein Arkadenvordach, das begrünt und mit Bäumen bepflanzt wird. Der Gehsteig ist so wettergeschützt und hat trotzdem genügend Lichteinfall. Die Wohnungen im ersten Stock haben Zugang zur Arkadenbegrünung und solcherart einen Dachgarten vor dem Fenster. Die gegenüberliegenden Häuser haben statt einem grauen Gehsteig einen Blick auf Wiese und Bäume.
  8. Die Stockwerke sollen sich nach oben verjüngen, unten größere Geschoßhöhe, größere Fenster, oben kleinere Geschoßhöhe, kleinere Fenster. Dies, damit eine demokratischere Verteilung von Licht und Luft gewährleistet wird. Die neuzeitlichen gleichen Etagenhöhen verletzen das gleiche Recht aller auf Licht und Luft, da die oberen Mieter privilegiert sind, die unteren Mieter aber benachteiligt werden. Ein Quadratmeter Fenster läßt nicht überall die gleiche Menge von Licht und Luft herein.
  9. Die Außen- und Innenwände dürfen nicht perfekt glatt und flach mit der Latte abgezogen sein, sondern müssen mit der Hand belebt sein. Spezialisten und Maurer müssen für diese Aufgabe herangezogen werden, deren Ehre es ist, belebte Wände herzustellen. Probeverputze müssen ab sofort in Angriff genommen werden.
  10. Ich werde an der Außenfassade Keramik oder Mosaiklinien anbringen, damit die geometrischen rechteckigen Fenster, Kanten und sonstigen Strukturlinien entschärft werden und die moderne Struktur etwas vom bekannten aggressiven Terror verliert.
  11. Das Haus soll eine Herausforderung sein. Daß trotz Beton und industriellen Materialien natürlicher Baumbewuchs möglich ist. Ja sogar, es soll der Beweis erbracht werden, daß sogar moderne Bauweise ein Stück Natur im Stadtzentrum ermöglichen kann.
  12. Nach Fertigstellung des Hauses und Pflanzen der Bäume auf den Dächern, Terrassen und Arkadenvordächern und Einpflanzen der Baummieter soll ein Jahr bzw. eine längere Zeitspanne verstreichen, wo die Vegetation Zeit hat, sich natürlich einzuwachsen. Bevor die Mieter einziehen und die jungen Pflanzen eventuell zerstören.
  13. Ein Budget muß geschaffen werden, um eventuelle Schäden an Dachgärten zu beheben, die Bäume zu pflegen und abgestorbene durch neue zu ersetzen.
  14. Der Baumbewuchs soll möglichst natürlich, ohne gärtnerisches Zutun des Menschen vor sich gehen mit dem Ziel, ein Stück wahrhaft unberührter Natur erstehen zu lassen. Keinen gepflegten, gestutzten immergrünen Schanigarten. In dieser Hinsicht darf das Gras nicht geschnitten, das Laub, das auf die Grünfläche fällt, nicht entfernt werden.
  15. Das Fensterrecht der Bewohner muß gesetzlich verankert werden. Das Fensterrecht hört dort auf, wo der Nachbar geschädigt werden kann.

Warum sind Häßlichkeit und unmenschliche Bauweise erlaubt?

Warum gibt es dafür Bewilligungen?

Überall, wohin das Auge schaut, ist in Häßlichkeit erstarrte Scheußlichkeit.

Und für alle diese Häuser gab es Baubewilligungen.

Warum sind Schönheit und menschenwürdige Bauweise nicht gestattet?

Warum ist der Weg zu einer menschenwürdigeren Bauweise mit unüberwindlichen bürokratischen Hemmnissen versperrt?

Umgekehrt sollte es sein.

Helft mir, endlich den anonymen Perfektionismus zu beseitigen, damit eine inhaltsvolle neue Zeit beginnen kann.

Das Haus ist eine Zusammenarbeit zwischen einem Architekten und einem Maler, mit allen Begleiterscheinungen des Kompromisses zwischen Rationalität und machbarer unregelmäßiger Romantik. Das ist ja das Interessante daran.

Dieses solitäre Beispiel ist eine längst fällige Notwendigkeit, die Antwort gibt, ob die jetzige Architektur auch anders sein und ausschauen kann.

Der Architekt ist mehr für das Innere, der Maler mehr für das Äußere zuständig.

Der Maler will Kreativität im Einklang mit den Gesetzen der Natur.

Der Architekt muß schauen, daß das Ganze nicht zusammenfällt.

Die scheinbaren Mehrkosten sind gar keine, denn sie werden durch eine höhere Lebensqualität, durch eine höhere Wohnqualität und durch Glücklichsein amortisiert. Seelische Depressionen und Unglücklichsein kosten viel mehr Geld. Nicht zu sprechen von den Kosten, die die Allgemeinheit für Ärzte, Spitäler, Medikamente aufzubringen hat.

Wenn Menschen in einer menschengerechten Umwelt wohnen können, die sie mitgestalten können, anstatt in einer anonymen, feindlichen, aggressiven Betonwüste, dann fliehen sie nicht bei jeder Gelegenheit wie aus einem Konzentrationslager, entweder aufs Land, in die Ferien, in Mittel, die die feindliche Umwelt vergessen machen oder übertönen. Und das kostet auch viel Geld.

Es gibt mehr Lebens- und Arbeitsfreude, weniger Aggressionen und Vandalismus. Auch das ist in Geld berechenbar.

Die Grasbedachungen vermindern Staub, Lärm, Heizkosten, erzeugen Sauerstoff, mindern Klimagegensätze. Auch das sind Kostengewinne. Die Bilanz ist auf alle Fälle positiv.

Das Haus ist kein Öko-Haus. Denn es hat keine Sonnenkollektoren auf dem Dach, keine Humustoiletten, keine Windgeneratoren. Es weidet kein Vieh auf dem Dach, aber man wird etwas Obst und Gemüse auf dem Dach ernten können.

Trotzdem ist es ein ungewöhnliches Haus. Denn es soll in dem Meer von rationellen Häusern eine Oase für Menschlichkeit und für die Natur sein. Es soll die Sehnsucht der Menschen und Romantik verwirklichen. Genau die Romantik, die die rationelle Architektur mit tödlich sterilem Eifer negiert und auszumerzen sucht.

Alle freuen sich, nach Hause zurückzukommen. Denn das Haus funkelt im Sonnenschein und im Mondlicht. Es hat Brunnen, und man kann im Grünen sitzen. Und man blickt mit Wohlgefallen auf die lebenden Mauern und erkennt die lebenden Fenster, die man selbst umgestalten darf, hinter denen man wohnt.

Änderungen und Ergänzungen Hundertwassers von 1996 sind kursiv gesetzt.

Kategorie(n): Zur Philosophie des Hauses

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